Übersicht:

(1) Tante Baby
(2) Die Katze ist weg
(3) Ein Zimmer ist frei
(4) Die Frau und der Baum

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Tante Baby

 

Werner Wolski

 

(verfasst um 1992)

 

Wenn man eine Geschichte erfindet, kann es ein müh­samer Weg sein, bis erste vage Ideen die gewünschte Form annehmen, bis fiktive Gestalten in befriedi­gender Weise erschaffen und Konstellationen sowie Handlungsstränge geeignet aufeinander abgestimmt sind.

 

Aber das alles ist für mich hier gar nicht so sehr oder nur in ganz abgemildeter Weise ein Problem, denn ich habe eine Geschichte gleichsam geschenkt bekommen. Die Geschichte, um die es geht, hat mir Constanţa erzählt - nur einmal recht ausführlich, aber sonst nur ausschnittweise, unterbrochen manchmal durch Wochen oder sogar Monate, in vonein­ander abweichenden Varianten, bisweilen vermengt mit anderen Geschichten, aber doch alles in allem in gleich bleibender Weise, was das Wesentliche an­geht. Sie hat mir diese Geschichte - oder besser: die verschiedenen Episoden, die diese Geschichte ausmachen - weder ein einziges Mal auf meinen Wunsch hin erneut erzählt, noch hat sie genauere Ausführungen gemacht, wenn ich etwas nicht verstan­den habe. Meist hörte ich nur zu, ohne sie zu un­terbrechen, wenn es ihr gerade in den Sinn kam, zu erzählen; und wenn sie einfach an einer Stelle ab­brach, weil sie keine Lust mehr hatte weiterzuer­zählen, dann musste ich mich auch damit abfinden. Jede Bitte, doch fortzufahren, war dann, solange ich auf meine Rolle als geduldiger Zuhörer zurück­blicken kann, völlig zwecklos.

 

Manch eine Einzelheit prägte sich mir gut ein, anderes vergaß ich schnell; und ab und zu machte ich mir auch schon ein paar Notizen von gewissen Passagen, die ich für besonders gelungen hielt. Aber die Notizen blieben jahrelang unbeachtet in einer Schublade liegen, manchmal halbherzig ergänzt um hinzukommende kleinere Episoden. Denn so sehr ich an der Schilderung von Ereignissen und Lebensumständen – schon meiner Erzählerin zuliebe - Anteil nahm, und so sehr ich auch von ihrer Erzählweise beeindruckt war, fehlte mir doch eine besondere Be­ziehung zu dem, was sie von sich und von Personen, mit denen sie einmal in Verbindung gestanden hatte, zu vermitteln verstand.

 

Aber an einem bestimmten Tag war ich selbst in die Geschichte verwickelt - genauer: Es wurde mir in Erinnerung gebracht, dass ich längst einmal, an ei­nem bestimmten Tag, in diese Geschichte verwickelt gewesen bin, sie mich gleichsam ohne mein Wissen mit einem ihrer Ausläufer gestreift hatte.- Das war lange vor den ersten Notizen und noch länger vor der endgültigen Fassung, die ich der Ge­schichte, die ich dann als meine annehmen konnte, gegeben habe.

 

 

I

 

 

Wir kannten uns noch nicht lange, Constanţa und ich, aber lange genug, um - irgendwann im Winter 1982 - eine gemeinsame Wohnung zu nehmen. Dies brachte verschiedene Arbeiten mit sich, denn die alte Wohnung musste bei Auszug renoviert werden und die neue bei Einzug; wochenlang waren wir mit Reno­vierungsarbeiten beschäftigt. Eine Abwechslung gab es nur durch Anstreichen hier und dort, durch Tep­pichverlegen in allen Räumen, dann Regale anbohren und Schränke aufstellen, und was sonst nötig wird. – Und irgendwann war ich der Meinung, dass es genug sei, war in die Stadt gefahren und hatte Karten für die Oper „Tosca“ besorgt, um wenigstens für ein paar Stunden von dem Durcheinander zu Hause Abstand gewinnen zu können.

 

Ein Ensemble aus Rumänien gab bei uns ein Gast­spiel; und ich wollte Constanţa oder - wie sie seit ihrer Kindheit kurz genannt wird - Tanţa mit meiner Einladung eine Freude machen; ich war sicher, dass sie dies besonders würde schätzen können, weil sie selbst aus Rumänien stammt. In dem Umzugsdurchein­ander hatte sie nicht nachgefragt, was für eine Veranstaltung das genau sei, wer das Gastspiel geben werde, wer auftreten würde, usw. Erst als wir auf dem Wege zum Theater waren - ich eigentlich ziemlich müde von den vorausgegangenen Renovie­rungsarbeiten, und sie nicht einmal sehr glücklich über meine Einladung zu diesem Zeitpunkt - erzählte ich ihr, weil sie jetzt doch nachfragte, worum es sich handele: um eine Aufführung der „Tosca" mit einem rumänischen Ensemble, von dem ich mir keine genaueren Vorstellungen machen könne, und dass ich mit Mühe gerade noch zwei ziemlich gute Karten er­halten hätte.

 

Unsere Plätze waren in der vierten Reihe, irgendwo in der Mitte. Ich wusste, dass Tanţa diese Oper un­zählige Male gesehen hatte, dass sie früh an die Opernmusik herangeführt worden war, aber auch an das Ballett und an klassische Musik überhaupt. Als der Chor irgendwann auftrat, zupfte sie mich am Arm und flüsterte mir zu: „Siehst du den da hinten, in der letzten Reihe, der mit den grauen Haaren - das ist Onkel Sandu, von dem ich dir schon erzählt habe". Und als ich etwas unsicher zu ihr hinüber­schaute, fügte sie hinzu: „Warte, bis wir zu Hause sind, dann erinnere ich dich daran". –

 

Sie wusste, dass ich alles schnell vergesse, wozu ich keine Beziehung habe. – Ja, sie hatte mir einmal von einem Mann erzählt, der Sänger war, ein Verwandter von ihr; aber irgendwie hatte ich das nicht richtig aufgenommen, weil es mir nicht so wichtig erschien. Aber jetzt sah ich jedes Mal genauer hin, wenn ich ihn auf der Bühne erkennen konnte. Und Tanţa war sehr ernst; sie zeigte keine besondere Regung, die über das hinausging, was sie immer, wenn sie Musik hört, erkennen lässt. Nichts deutete darauf hin, dass sie mir im Moment weitere Hinweise geben würde, um meinem Gedächtnis nachzuhelfen. Wahrscheinlich -  und das gehört zu ihrer Art - erwartete sie von mir, dass ich zumindest versuchen würde, mich selbst zu erinnern, bis sie mir, wie angekündigt, das genauer erläutert; denn sie wiederholt sich nicht gern.

 

Als die Oper zu Ende war, sagte sie auch unterwegs im Auto kein Wort. Aber zu Hause in unserem Chaos angekommen, fanden wir irgendwo einen bereits ein­gerichteten Platz; und dort begann sie dann doch zu erzählen - erst zögernd und langsam, sehr bestimmt und mit Pausen, wie sie es zu tun pflegt, und - wie ich es empfand - sehr gut zur Oper passend, die mir noch im Kopf nachklang: Sie hätte ja nicht gewusst, dass er anwesend sein würde, und wir hätten beide schließlich nicht mehr als ein paar Mark bei uns gehabt, kaum ausreichend für das Glas Sekt in der Pause. Denn sonst hätte sie auf ihn gewartet nach der Vorstellung, sich irgendwann bemerkbar gemacht und ihm etwas zugesteckt, mindestens einhundert Mark; das sei schließlich für Rumänen viel Geld. Kontakt aufnehmen im Westen sei ihm ja verboten, aber das wenigstens hätte sie tun können; und dass es nicht möglich gewesen sei, tue ihr jetzt leid.

 

Ich erfuhr, dass er alle drei Jahre nach Deutschland auf Tournee gekommen ist. Und jetzt - Jahre danach und nach dem Umsturz in Rumänien - weiß ich, dass es seine letzte Tournee war, auf der er auch in Marburg gastierte; er ist mittlerweile weit über sechzig. Zuletzt hatte sie ihn 1979 gesehen, als sie noch in Karlsruhe wohnte. Damals war sie erst vor nicht allzu langer Zeit aus Rumänien gekommen, hatte einen Deutschkurs besucht und danach eine Umschulung begonnen, weil sie in ihren früheren Beruf als Anwältin nicht mehr arbeiten konnte. Viele Jahre hatte sie ihn vorher nicht gesehen – auch in Rumänien nicht mehr.

 

Er hatte ihr eine Karte geschickt aus Italien, während einer Europatournee. Sie war dann nach Sindelfingen gefahren, wo sie ein Gastspiel hatten. „Wenn du kannst, Tanţa, dann komm doch bitte", hatte er geschrieben. Sie hatte bis fünf Uhr nachmittags Schule und kam dann um 17:30 Uhr nach Hause, hatte sich schnell umgekleidet und war los­gefahren. Onkel Sandu hatte sie zu einer Loge ge­führt, denn die Mitwirkenden konnten reservierte Plätze zuteilen. Aber sie hatte so wenig Geld wäh­rend der Umschulung, dass sie ihm nichts geben konnte, nicht ein paar Mark, worüber er sich be­stimmt gefreut hätte. „Hattest du eigentlich in Ru­mänien einen guten Kontakt mit ihm, hast du ihn ge­mocht"?, fragte ich. Und sie sagte, eigentlich habe sie mit ihm nicht so sehr viel zu tun gehabt, viel mehr aber mit seiner ehemaligen Frau, die Primabal­lerina gewesen sei; die habe ihr sehr viel bedeu­tet, und von ihr wolle sie mir erzählen; er spiele dabei eher eine Randrolle. Diese Frau sei von allen nur „Baby" genannt worden; und für Tanţa sei sie immer nur „Tante Baby" gewesen, obwohl sie nicht eigentlich ihre Tante war. Und dann erzählte sie mir alles der Reihe nach, woran sie sich erinnern konnte:

 

 

 

II

 

Tante Baby wurde in einem Dorf in der Moldau gebo­ren. Die Moldau war damals ein sehr armes Gebiet in Rumänien, sodass „Moldau" gleichbedeutend mit Armut und Hungersnot war. Die Moldauer hatten zu der Zeit damals – wie auch die meisten Rumänen anderswo – sehr viele Kinder, genauer gesagt: nur die armen, nicht die reichen Rumänen. Und aus solch einer armen Familie, einer Familie mit vielleicht vierzehn Kindern, stammte auch das Mädchen, das ich später nur als Tante Baby kannte. Mit vierzehn Jahren ging sie aus dem Dorf weg und arbeitete als Hausdienerin in einer größeren Ortschaft bei einer vornehmen Ge­neralsfamilie. Ihr, die aus ärmlichsten Lebensver­hältnissen stammte, erschien alles dort großartig und von erstaunlichem Glanz; sie war beeindruckt von der freundlichen Atmosphäre, von den vielen Feiern und den gehobenen Umgangsformen, die dort gepflegt wurden, unbelastet von Not und alltägli­cher Bedrängnis, wie sie sie bisher erfahren musste. Wie außerordentlich schön sie selbst war, schöner als all die vornehmen Frauen, die sie jetzt umgaben und zu denen sie aufblickte, wusste sie nicht. Sie war jung und unerfahren; niemand hatte ihr in dem Dorf, aus dem sie kam, irgendeine Aufmerksamkeit ge­schenkt oder sie, die in Lumpen herumlief, gar we­gen ihrer Schönheit bewundert. Aber in dem Haus­halt, in dem sie jetzt beschäftigt war, hatte man sie entsprechend gekleidet und sie mit den ge­wünschten Umgangsformen vertraut gemacht. Sie hielt dort das Haus in Ordnung, bewirtete die Gäste, ver­hielt sich ansonsten unauffällig und unbefangen. Sie lernte viel hinzu, blieb aber ein unschuldiges Ding, ohne Kenntnis der Gefahren, denen man im Le­ben ausgesetzt sein kann. Und der Hausherr, der Ge­neral, fand schnell an ihr Gefallen; er gewann nach und nach ihr Vertrauen - und schließlich hat sie mit ihm geschlafen. Als sie dann aber schwanger wurde und ihm das sagte, gefiel sie dem General nicht mehr so gut. Er hat sie dann eine Woche lang eingesperrt und sie immer wieder geschlagen, und zwar so lange, bis sie das Kind verlor.

 

Nach diesem Schock ist sie aus dem Ort weg nach Bu­karest geflohen. Bei dem General hatte sie inzwi­schen viele Leute kennengelernt, denn weil sie außerordentlich gut aussah, gab es da viele Offiziere und Kadetten, die ihr den Hof machten; und von einigen hatte sie wohl gehört: „Komm nach Bukarest; dort kannst du etwas werden und musst nicht wieder in das Dorf zurück, woher du gekommen bist.“

 

In Bukarest fand sie, weil sie sehr gut tanzen konnte, bald aufgrund einer Vermittlung eine Stelle als Tänzerin und konnte mit dem Tanzen ihren Le­bensunterhalt verdienen. Sie ließ sich als Ballett­tänzerin ausbilden und wurde schon mit fünfzehn Jahren als Ballerina in einer Tanzgruppe übernom­men. - Später kam sie nach Timişoara. Sie war in­zwischen schon recht bekannt und ist dort schnell zur Primaballerina an der Oper avanciert. 

 

In Timişoara wurde früh ein Opernhaus erbaut; und dies hatte einen nicht geringen Namen. Man ging auf Tournee in Europa und kam auch bis nach Afrika. Und in Afrika irgendwo hatte sich ein Scheich, als sie dort auftrat, in sie verliebt. Der wollte sie unbe­dingt haben. Um sie loszukaufen, damit sie die Theatergruppe verlassen könnte, bot er an, ihr Ge­wicht in Gold zu bezahlen. Nach längerem Zögern war sie damit einverstanden, bei ihm zu bleiben und nicht mehr nach Rumänien zurückzukehren.

 

Aber sie hatte die Absicht, noch ein letztes Mal ihre Heimat zu besuchen, ihr Dorf, aus dem sie stammte, noch einmal zu sehen, um sich von ihrer Familie für immer zu verabschieden. Sie fuhr somit wieder nach Rumänien. Das war nach dem Kriege. In­zwischen aber hatte im Dezember 1947 der König ab­gedankt; und das hatte zur Folge, dass diejenigen, die sich noch in Rumänien aufhielten, nicht mehr aus dem Land herauskommen konnten. Und sie war nun in Rumänien; die Grenzen waren geschlossen, und man war sozusagen im Land eingesperrt. Sie ist dann dort geblieben wie viele andere - sogar Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit, die sich nur zufäl­lig in Rumänien aufhielten. Schließlich ging sie wieder nach Timişoara, um dort wie vorher an der Oper als Primaballerina zu tanzen.

 

Als ich fünf Jahre alt war, habe ich dann Tante Baby, die damals weit über zwanzig war, kennengelernt, und zwar bei meiner Oma auf dem Lande. Weil ich zu Hause immer allerhand anstellte, war ich dort, wenn auch nicht gerade ganz

unerwünscht, so doch nicht allzu gern gesehen - ganz anders als meine älteren Schwestern Dora und Vivi, die immer sehr brav waren und niemandem zur Last fielen. So­mit hielt ich mich sehr oft bei meiner Oma auf. Die hatte, obwohl sie von so vielen Enkelkindern hätte umgeben sein können, mich immer besonders lieb. Ich wunderte mich immer darüber und fragte mich, warum eigentlich, da ich ja nicht ein so nettes braves Kind war und wenig Anpassung zeigte, immer ver­schiedene Dummheiten machte und dadurch für stän­dige Unruhe sorgte. Aber für meine Oma war ich das liebste und schönste Kind der Welt. Bei ihr war ich gern und - wie gesagt - oft; und dies bis zu der Zeit, als ich zur Schule kam.

 

 

 

III

 

Der Mann meiner - richtigen - Tante, meiner Tante Joli, hatte einen Bruder, der war Schuhmacher und hatte in Timişoara ein eigenes großes Geschäft. Es ist der, den ich seit meiner Kindheit als „Onkel Sandu" kenne. Er reparierte nicht etwa nur Schuhe, sondern er fertigte auf Bestellung Schuhe an. Es war das eleganteste Geschäft in ganz Timişoara. Und eines Tages kam in sein Geschäft auch diese schöne Primaballerina der Oper und bestellte gleich zwölf paar Schuhe auf einmal. Er musste ihr dazu den Fuß­abdruck nehmen, verschiedene Gespräche mit ihr füh­ren etc., um ihr die Schuhe perfekt anpassen zu können. Und der verliebte sich sofort in diese schöne und berühmte Frau.

 

Irgendwie muss sie im Gespräch bei einem der Besuche erfahren haben, dass er singen kann; und dann wollte sie hören, wie er eigentlich singt. Er hatte eine sehr schöne, allerdings unausgebildete, Tenorstimme, hatte nicht studiert, und war auch nicht weiter mit Musik in theoretischer Hinsicht vertraut; er war nur strebsam und hatte es immerhin als Schuhmacher zu etwas gebracht. Sie sagte ihm nun, er müsse seine Stimme ausbilden lassen und unbedingt versuchen, an die Oper zu kommen, weil er eine bemerkenswerte Stimme habe.

 

Mehrmals nahm sie ihn mit an die Oper, besorgte ihm Karten für verschiedene Aufführungen, ließ ihn an Proben als Besucher teilhaben. Und als man einmal an der Oper eine große Anzahl von Leuten für einen Chor suchte, da meldete er sich und wurde zu seinem eigenen Erstaunen sofort genommen. Als er sang - er hatte eine so kräftige und klare Stimme -, hörte man ihn immer aus dem ganzen Chor heraus. Schnell bekam er eine Rolle und begann auch ein Gesangsstudium - aus Altersgründen nicht mehr an einem Konservato­rium, sondern in Privatunterricht. Ganz schnell kam er ganz nach oben und wurde ein sehr guter Bel­canto-Tenor.

 

Nun war auch er erfolgreich und immer in der Nähe der Frau, die er schon lange liebte. Und was er nicht zu hoffen gewagt hatte, trat dann irgendwann ein: Diese schöne Primaballerina verliebte sich schließlich in ihn. Anfangs hatte nur er sie ge­wollt; sie war unschlüssig, auch weil er ihr wohl nicht standesgemäß erschien. Aber er, er hatte al­les nur für sie gemacht: Für sie hatte er gelernt, für sie hatte er seinen Beruf mehr und mehr ver­nachlässigt und ständig Gesangsunterricht genommen; und nur für sie sang er allabendlich an der Oper. Und als sie sich nun in ihn verliebt hatte, war sie nicht nur oberflächlich in ihn verliebt. Vielmehr wollte sie ihn dann ganz für sich haben, immer mit ihm zusammensein und ihn heiraten. Als die ganze Geschichte dann so weit war, dass die Hochzeit anstand, musste er diese zukünftige Frau der Familie vorstellen.

 

 

 

IV

 

In unserer Familie gab es da plötzlich eine große Unruhe. Jemand Wichtiges musste kommen - das war mir mit meinen fünf Jahren klar. Meine Mutter, meine Tante Joli, meine Oma und andere jüngere und ältere Frauen aus der Verwandtschaft - alle waren in großer Aufregung. Sie trafen viele Vorbereitungen; man wollte perfekt kochen und alles aufs beste ar­rangieren.

 

Eine führende Rolle spielte dabei meine Oma, die die meisten Erfahrungen hatte. Sie war früher ein­mal sehr reich gewesen - jedenfalls bis zur Revolu­tion, als die Kommunisten an die Macht gekommen wa­ren. Sie hatte mehrere Bäckerläden und selbst einen Konditor eingestellt, und sie hätte zwei oder drei Konditoren bezahlen können.

 

Dann hatte man ihr aber alles genommen, wofür sie gearbeitet hatte, und zwar genau am 30. Dezember 1947, und sie wurde arm wie eine Kirchenmaus. Zu­erst nahm man ihr den großen Laden, dann auch die kleinen Läden. Man nahm ihr das große Haus in der Stadt und ein Haus, das sie noch im Dorf hatte. Als sie dermaßen enteignet war, blieb ihr am Ende nur diese Farm am Stadtrand von Timişoara, wo ich mich immer bei ihr aufhielt - jedenfalls bis 1952; denn dann nahm man ihr auch noch die Farm weg, was ich selbst noch miterlebt habe. Dort durfte sie dann - auf ihrer eigenen Farm - zusammen mit Opa als Ange­stellte arbeiten, bis Opa dann im Februar 1952 plötzlich starb. Er hatte im Februar 1952, als wegen der Währungsreform das Geld umgetauscht wurde, die ganze Nacht in Timişoara in einer Schlange gewartet, bis er an der Reihe war. Er war mit seinem gesamten Geld dorthin gegangen, und man gab ihm so wenig dafür,

dass er nicht einen Monat davon hätte leben können. Er kam mit dem Gefühl nach Hause, nun um alles betrogen worden zu sein, was er erworben hatte. Er sagte zu Oma: „Mach mir bitte einen Tee"; er war nämlich völlig durchgefroren, weil er so lange draußen in der Kälte gewartet hatte. Dann wollte er sich auf sein Bett setzten - und er, vorher ein kerngesunder Mann, bekam währenddessen einen Herzinfarkt und war auf der Stelle tot.

 

Dann blieb Oma allein und erhielt nicht einmal eine Rente; denn weil sie keine Arbeiterin war, galt sie den Kommunisten als Angehörige der Bourgeoisie, als Ausbeuterin, usw. Oma kam schließlich, als man ihr auch noch die Farm weggenommen hatte, zu uns nach Bokschan. Mich freute es sehr, dass sie nun bei uns lebte, weil Oma für mich der liebste Mensch auf der Welt war.

 

 

 

V

 

Die Farm war von einem großen Park umgeben, voll mit Blumen und mit vielen Bäumen vor dem Haus. Dort spielte ich immer sehr gern - mit Lumpenpuppen. Oma machte mir aus alten Lumpen Puppen, und gerade mit diesen Puppen konnte ich mich stundenlang beschäf­tigen. Aber ich wusste, dass so etwas nicht schön ist, weil wahrscheinlich meine Tante, meine Mutter oder sonst jemand gesagt hatte: „Man spielt nicht mit solchen Puppen, wenn man bessere hat.“ – Aber die „besseren“ waren immer auf einem Regal in der Wohnung, weil ich die „besseren“ immer kaputtgemacht habe; und dann habe ich immer Streit deswegen gekriegt und öfters auch schon mal eins auf den Po. Mit diesen Lumpenpuppen aber konnte ich spielen, so lange ich es wollte. Wenn eine kaputt ging, hat mir Oma sofort eine andere gemacht – aber niemals mit mir deswegen geschimpft.

 

Als nun alle bei so großen Vorbereitungen waren und ich wusste, dass sie deswegen so beschäftigt sind, weil jemand Außerordentliches bei uns angemeldet war, da bin ich mit meinen Lumpenpuppen in den Gar­ten gegangen und habe schön versteckt mit ihnen ge­spielt. Für mich waren diese Puppen lebendig; ich hatte eine so große Einbildungskraft, dass für mich alles lebte, wenn ich es nur wollte - egal, ob es ein Apfel, ein Blatt oder sonst was war; für mich hat auch ein Stück Holz gelebt. Wenn ich mir etwas vorgestellt habe, war es das, was ich wollte. Und meine Puppen waren für mich das beste Spielzeug, das es gibt. Ich spielte im Garten ein bisschen ver­steckt, damit mich nicht diese vielen eleganten Leute mit meinen Lumpenpuppen sehen konnten. Ich habe mich nicht damit geschämt - nur gewusst, dass ich mich eigentlich mit ihnen schämen sollte. Und ich habe

mich etwas versteckt gehalten, um keinen Anlass zu schaffen, mich schämen zu müssen.

 

Dort draußen spielte ich - und auf einmal hörte ich eine Stimme: Jemand fragte mich, was ich denn da mache. Und wie ich gegen die Sonne hochblickte - es war ein sehr warmer Sommertag und die Sonne strahlte sehr stark -, da stand vor mir eine Fee, eine junge Frau, die so schön war, wie ich mir immer vorge­stellt hatte, dass nur so eine Fee aussehen könne: das helle Gesicht, diese grünen strahlenden Augen, die schöne rote Farbe des Haares, das ihr bis über die Schultern herabfiel - alles passte zusammen! Ich schaute sie mit Erstaunen und mit Begeisterung an; und ich war sicher: Das ist eine Fee. Ein wenig habe ich mich seitlich vor ihr versteckt; denn die Oma hatte der Puppe, mit der ich gerade spielte, nur mit Kohlen die Augen gemalt, und den Mund und die Nase. Dann fragte mich die Fee – und sie sah mich dabei ganz einfach und ungeziert an -, ob ich denn gern mit Lumpenpuppen spiele. Und ein wenig verschämt sagte ich: „Ja", - weil man einer Fee schließlich die Wahrheit sagen muss. Aber dann meinte sie, dass ich mich nicht zu schämen brauche: „Als kleines Mädchen habe auch ich nur mit Lumpen­puppen gespielt, weil ich keine anderen hatte", sagte sie.

 

So gewann sie sofort mein Vertrauen: Auch sie hat mit Lumpenpuppen gespielt, dachte ich mir, obwohl sie so eine schöne Fee ist. - Und als sie mich fragte, warum ich denn so allein draußen spiele, da habe ich ihr genau erzählt, was mir nicht entgangen war: Die ganze Familie sei so beschäftigt, weil ein „ganz großes Tier" zu uns komme und alles perfekt sein müsse, dass so viele Vorbereitungen zu treffen seien, damit sie gut dastünden vor dieser Person, dass jetzt eben niemand für mich Zeit habe, dass ich deshalb allein draußen spiele, und und und. 

 

Dann fragte sie mich, ob ich denn wisse, auf wen alle warteten. - Ja, das wisse ich nicht genau; mein Onkel werde heiraten und werde meine zukünf­tige Tante mitbringen, die etwas ganz Wichtiges sei. Und dann fragte sie: „Weißt du nicht, wer ich bin?" Und während ich noch dachte, dass sie eine gute Fee sei, vielleicht für mich extra vom Himmel gekommen, da sagte sie bereits: „Ich heiße Baby". Das war ihr Kosename; so nannten sie alle; aber da­mit konnte ich mit meinen fünf Jahren nicht viel anfangen. „Weißt du was", sagte sie dann und streckte ihre Hand nach mir aus: „Gib mir deine Hand!" Und dann hat sie meine kleine Hand in ihre Hand genommen und gesagt: „Ich bin deine zukünftige Tante; diese wichtige Person, - diese Person bin ich. Aber ganz so wichtig bin ich auch wieder nicht. Und ich hab’ dich lieb. Hast du mich auch lieb? Willst du meine Freundin werden?“

 

Und ich hatte sie ja gleich lieb; von ganzem Her­zen habe ich sie sofort umarmt und mich an sie ge­drückt. Sie hat mich hochgehoben und ist sofort mit mir ins Haus gegangen. Dass ausgerechnet sie diese wichtige Person war, beschämte mich ein wenig. Ich freute mich zwar sehr, aber es war mir etwas pein­lich, weil ich ihr soviel erzählt hatte; denn ich befürchtete, ich könnte etwas Falsches gesagt ha­ben, als ich von der großen Nervosität zu Hause ge­plappert hatte und davon, dass meine Oma und die an­deren wollten, alles solle so perfekt wie möglich aussehen - und vor allem, dass sie dazu erst so viele Vorbereitungen machen mussten. Als wir ins Haus kamen, sagte sie so laut, dass alle es hören konnten, sie habe draußen die Tanţa, die ihr am nächsten stehende Verwandte in dieser neuen Fami­lie, schon kennengelernt. 

 

Dass ich viele Jahre, und zwar bis zu der Zeit, als ich erwachsen wurde, mit ihr in Verbindung bleiben würde, konnte ich damals noch nicht wissen. Bald, das war 1949, heiratete Tante Baby meinen Onkel. Bei der Hochzeitsfeier war ich nicht, denn ich galt als ein zu wildes Kind; in mich hatte man im Unter­schied zu meinen etwas älteren Schwestern nicht so viel Vertrauen, um mich zu solchen Anlässen mitzu­nehmen.

 

 

VI

 

Bei Tante Baby war ich danach öfters in Timişoara zu Besuch. Und als man dort an der Oper Kinder für verschiedene kleine Rollen suchte, hat sie mich im­mer gern mitgenommen. Ich habe auf der Bühne zwar nichts gesagt oder gar etwas gesungen, sondern dort nur ein paar Schritte vorwärts gemacht, und dann wieder ein, zwei Schritte zurück – aber ich war glücklich und habe mich ganz wichtig gefühlt. Auf ein paar Schritte vorwärts und zurück auf der Bühne war ich sehr stolz und hielt mich dann für den Nabel der Welt. Man hat mich dazu auch immer sehr herausgeputzt und wie eine Prinzessin gekleidet. Als ich dann, wenn ich wieder zur Oper geholt wurde, auch schon einmal dort tanzen durfte, habe ich mit Herz und Seele getanzt.

 

Und zu Hause tanzte ich meist vor Oma, um ihr vorzumachen, worauf es auf der Bühne ankomme. Oma sagte dann immer zu meinem Vater: „Gib das Kind zum Ballett, Valerica; das kann sie so gut!" - Aber mein Vater war damit nie einverstanden. „Nein", sagte er, „jede Ballerina ist eine Hure; und wir brauchen so etwas nicht in der Familie". - Für meine Oma, die sehr streng erzogen war, war das Wort „Hure" eine Blasphemie. Sie hatte gesehen, mit wieviel Be­geisterung ich tanzte; und sie wollte für mich nur das Beste. Sie stand immer zu mir; vor allem hatte schließlich sie mich ja großgezogen und deshalb ein gewisses Mitspracherecht. Aber mein Vater, so sehr er mich liebte, wollte um nichts auf der Welt etwas davon wissen, dass ich Ballettunterricht nehme. Er sah darin zu viele Gefahren für meinen weiteren Weg vorgezeichnet. Sicher lag es, was seine Einstellung in diesem Punkt angeht, auch daran, dass einfach das nötige Geld nicht vorhanden war, um mich in dieser Beziehung fördern zu können.

 

Für mich war es immer ein großes Ereignis, wenn ich auf der Bühne erscheinen durfte - ja bereits dort hinter die Kulissen sehen zu können, die Sänger vor ihrem Auftritt zu beobachten, die Tänzerinnen vor ihren Vorbereitungen, war für mich interessant; und überhaupt der Eifer, mit dem alle sich lange Zeit vorbereiteten, war für mich überaus beeindruckend. Und wenn ich dann mit meinem kleinen Auftritt auf die Bühne durfte, hatte ich keine Angst zu versagen – auch wenn der Saal noch so voll war; ich war stolz auf das, was ich vollbringen konnte.

 

 

 

VII

 

Und Tante Baby spielte bei allen Veranstaltungen immer eine wichtige Rolle. Ich verehrte sie natür­lich; aber ich kann nicht einmal sagen, dass ich sie besonders liebte. Wenn ich bei ihr war, sprach sie mit mir stets viel über Verschiedenes, was mich in­teressierte - auch über Dinge, von denen ich zu Hause nie etwas zu hören bekommen hatte. Sie ver­suchte mich - das wurde mir erst viel später klar - auf das Leben vorzubereiten, mich an Beispielen aus ihrem eigenen Leben vor möglichen Fehlern zu bewah­ren. Mit der Zeit, als ich heranwuchs, wurde sie immer deutlicher und ausführlicher in ihren Äuße­rungen. Sie sagte zum Beispiel, ihr sei das und je­nes passiert, und wie man sich verhalten müsse. Sie erzählte, wie sie mit vierzehn Jahren von dem General als Lustob­jekt benutzt worden und wohinein sie damals gera­ten sei, weil sie nichts vom Leben gewusst habe. Und sie erzählte mir auch, wie sie später an Selbstver­trauen gewonnen und ihren Lebensweg irgendwann selbst aus eigener Kraft habe bestimmen können. Da­für habe sie gekämpft, nämlich dafür, von anderen unbeeinflusst ihren Weg zu finden. Und etwas von ih­ren Erfahrungen wollte sie mir offensichtlich mit­geben.

 

Sie hatte gesehen, dass ich von zu Hause aus nicht die geeignete Erziehung erhielt, um auf das, was sie selbst erleben musste, genügend vorbereitet zu sein. Dass aus ihrer Sicht vieles für mich nicht richtig lief - daran war allerdings weder meine Mutter schuld noch mein Vater: Meine  Mutter gab sich große Mühe, mich - ihrer Auffassung nach - richtig zu erziehen, und zwar im Sinne einer adret­ten und zu allen höflichen Person, die zwar gebil­det ist, aber auch wieder nicht zu sehr, weil diese gebildeten Frauen, so meine Mutter, für Männer unerträglich seien. Und sehr religiös sollte ich sein, und immer gepflegt natürlich. Meine Mutter war auf einer Schule für gut betuchte Mädchen gewesen, wo man lernte, wie man ein Haus führt, wie man Gäste bewirtet, wie man mit einem Diener spricht, etc. Aber nach dem Krieg waren wir sehr arm; - ei­gentlich nicht sofort nach dem Krieg, sondern nach der Abdankung des Königs im Jahr 1947. Und sie wollte das, was sie an Erfahrungen gewonnen hatte, an mich weitergeben. Sie wollte also - aus ihrer Sicht - das Beste für mich.

 

Und auch mein Vater versuchte sein Bestes: Was er dafür hielt, ging in Richtung Kultur. Dass ein Mensch Kultur brauche war das, was er wiederum von seinem Vater mitbekommen hatte. Der galt als ein sehr guter Intellektueller, aber auch als großer Säufer. - Mein Vater arbeitete als Eisenbahner für wenig Geld - zu wenig jedenfalls für unsere Familie, die immer größer wurde; nebenher half er deshalb noch in ei­ner Bibliothek aus. Von dorther brachte er ständig für uns Bücher mit, die wir von klein auf lasen und so mit der wichtigsten internationalen klassischen Literatur früh vertraut waren.

 

Doch niemand, weder meine Mutter, noch meine Oma, und auch nicht mein Vater, hat mit uns Kindern je­mals über normale Lebensprobleme gesprochen - und schon gar nicht über das, was uns bewegte, als wir etwas älter wurden. Das Leben, so wie wir es ken­nenlernten, insbesondere auch aus der Literatur, war von einem Nimbus umgeben. Aber für Tante Baby gab es keine idealisierte Vorstellung vom Leben; für sie war dieses nicht mit einem Nimbus umgeben; für sie gab es das Leben nur so, wie es ist bzw. so, wie sie es erfahren hatte. Und darauf hat sie versucht, mich vorzubereiten. Es war nicht so, dass sie gesagt hätte, das Leben sei grausam, die Men­schen seien schlecht, oder Ähnliches – durchaus nicht. „Das Leben ist so, wie es ist; du musst es so nehmen. Du musst aber die Gefahren kennen; nur dann kommst du zurecht!“ So etwa sprach sie. Und was sie zu sagen hatte, das versuchte sie immer anhand von Beispielen aus ihrem eigenen Leben zu verdeutlichen.

 

Als ich etwa zwölf Jahre alt war oder dreizehn, hatte ich mitbekommen, dass mein Vater mit einer Frau das und das, wofür es mehrere umgangssprachli­che Wörter gibt, gemacht habe. Mutter und Vater ha­ben sich oft wegen Sexgeschichten gestritten. Ich hörte immer etwas, wusste aber nicht klar, um was es eigentlich ging. Sie stritten sich zwar, aber nicht so, dass wir Kinder etwas davon mitbekamen. Da ich immer sehr aufmerksam war, blieb mir allerdings nicht so schnell etwas verborgen. Ich war nicht sehr empört darüber, was geschehen war, weil ich nicht genau verstand, welche Konsequenzen das haben könnte; ich war nur irgendwie unangenehm berührt davon und durchaus bedrückt. Tante Baby fragte mich einmal: „Warum bist du traurig?" – „Ja, Vater und Mutter haben sich wieder gestritten", sagte ich. „Warum, was meinst du", sagte sie, „haben Mama und Papa sich gestritten? Meinst du, du weißt, warum?" - Ich sagte: „Mein Vater liebt uns nicht mehr, son­dern eine andere Frau!" - Und sie sagte: „Was?" Und ich fuhr fort: „Ja, ich hab' gehört, dass er eine andere hat!" – „Aber Mädchen", sagte Tante Baby, „wie kannst du so was glauben? Bist du nicht nor­mal, oder was? Wahrscheinlich hat er nur mit ihr geschlafen!" (Sie drückte sich wohl etwas drasti­scher aus, wenn ich mich recht erinnere). - Da war ich wie vom Blitz erschlagen und konnte kein Wort mehr herausbringen; so sehr hatte mich das getrof­fen. Aber so direkt war sie immer: „Das bedeutet doch nicht", sagte sie, „dass er deine Mutter und euch nicht mehr lieb hat, sondern nur, dass er an dieser anderen Frau Gefallen gefunden hat und für ein paar Minuten mit ihr einen Spaß wollte!" - Ich saß wie erstarrt vor ihr und guckte sie mit großen Augen an. Und dann sagte sie zur mir: „Komm her, ich erkläre dir genauer, was das vorgefallen ist!“ – Sie war deutlich genug; aber mit einigem wartete sie, bis ich etwas älter war.

 

So sehr ihre Direktheit mich damals schockierte, so sehr trug dies doch dazu bei, dass ich meinen Vater weiterhin vorurteilslos gern haben konnte - im Ge­gensatz zu manchen anderen aus der Familie, die ihn deswegen, was er anscheinend immer wieder tat oder tun musste, weniger mochten. Sie wollte mir die Au­gen öffnen und mir zeigen, dass die Welt so, wie ich sie mir vorstellte, nicht ist: „Du darfst keine Angst vor der Wirklichkeit haben", sagte sie, „und du darfst anderen nicht zu sehr vertrauen".

 

Als ich etwa vierzehn war, begannen einige männli­che Leute mir nachzusehen. Ich war noch sehr unsi­cher, weil ich immer gehört hatte, dass ich eher hässlich sei - wahrscheinlich nicht hässlich, sondern eher nicht so sehr gepflegt wie zum Beispiel meine Schwester Vivi. Ich war ein bisschen wild, nicht so fisiliert, wie es meine Mutter erwartete. Aber mei­ner Tante Baby gefiel gerade das gut an mir; sie mochte ein geschniegeltes Mädchen, wie es die eine meiner Schwestern zum Beispiel war, weniger: Jede Haarsträhne saß bei ihr perfekt; und im Unterschied zu mir widersprach sie auch nie, wenn ihr etwas nicht passte. Wenn wir irgendwohin gehen mussten, dann wurden wir schön gekleidet – „schön" für die damalige Zeit -; und Vivi war immer adrett, so wie gerade aus einer Schachtel harausgeholt. Aber mit mir war es anders: Wenn man mich um 3:30 Uhr ent­sprechend vorbereitet hatte, saß um 4:00 Uhr schon wieder alles schief! 

 

Tante Baby war es aufgefallen, dass, wie gesagt, ei­nige Männer mir nachsahen; und ich fühlte mich ge­schmeichelt, weil ich mir nicht gerade besonders wertvoll oder gar schön vorkam. Und dann sagte sie zu mir: „Weißt du, dass du schön bist?" – „Nein", sagte ich. Ich wusste es nicht anders. Dann fügte sie hinzu: „Du bist schön, Tanţa. Und weißt du, was diese Leute von dir wollen?“ – Das wusste ich nicht. Dort im Theater zum Beispiel: Als ein junger Schauspieler zu mir kam und ich vor Begeisterung fast auf den Hintern fiel, da hatte sie wahrscheinlich bemerkt, wie ich ihn anstarrte, und wie geschmei­chelt ich mich fühlte. Und sie fragte: „Gefällt er dir gut?" - Und ich fiel aus allen Wolken, weil sie meine Gedanken erraten hatte. „Ja", antwortete ich verlegen, „ja". - "Das sagt aber auch die Frau Bu­kateru, die Ballerina, schon, und auch die kleine Petru, und auch die Dalia; weißt du, was der von dir will?" – „Aber mit mir bestimmt nicht nur das", sagte ich und hoffte es auch ins geheim, dass es so wäre. Aber sie sagte: „Was ist das für ihn, ob er es mit dir macht oder mit einer anderen. Du guckst ihn an, und er denkt: Na ja, die ist auch was dafür." Und sie fügte nach einer Pause hinzu: „Weißt du was: vier­zehn Jahre alt bist du; ich bin mit vierzehn, gut­gläubig wie ich war, in etwas Schlimmes hineingera­ten; und ich war nicht einmal fünfzehn, als ich schwanger blieb." - Als ich das hörte, brach für mich eine Welt zusammen. Nein, das wollte ich nicht. Und dann erzählte sie mir, was man von einem jungen Mädchen will und welche Kategorien von Män­nern was von einem Mädchen wollen. Und dann wusste ich es, und war das nächste Mal nicht mehr außer mir vor Begeisterung, wenn mir jemand schöne Augen machte, als sei ich und nur ich für ihn interes­sant. Und auch das hat sie mich gelehrt: „Wenn du etwas mit einem machen willst, dann musst du das selbst bestimmen, und musst nicht nur deshalb etwas tun, weil jemand anders das will. Es gibt viele, die das Eine mit dir machen wollen, aber nicht nur, weil du - ach so - schön bist, sondern einfach, weil du jung bist. Du musst dir das genau überle­gen."

 

Und auch ein andermal, als ein Schulkollege, der sehr gut Geige spielte, mich damit so beeindruckte, dass ich zu allem bereit gewesen wäre, wies sie mich darauf hin, worauf das hinauslaufen könnte, und welche Erfahrungen sie selbst gemacht hatte. Sie wollte mir zeigen, dass Sex manchmal vulgär und gefährlich ist und wollte mir helfen, dass ich – so dumm, wie ich war – nicht in irgendetwas hineinrenne, was ihr im gleichen Alter zugestoßen war. Denn das – rückblickend kann ich es genauer beurteilen – war für sie ihr Leben lang ein Trauma geblieben: Sie war vierzehn Jahre alt, als sie ihr Kind durch Misshandlung des Mannes verlor, dem sie zuviel Vertrauen geschenkt hatte. Einem stumpfsin­nigen Menschen würde das alles nichts ausmachen; aber für einen empfindsamen Menschen spielt der An­fang eine große Rolle.

 

 

 

VIII

 

Tante Baby übte ständig für ihre Auftritte; und wenn ich bei ihr war und zusah wie sie tanzte, dann versuchte ich, das zu Hause nachzumachen. Im Alter von etwa acht bis neun Jahren konnte ich schon auf der Spitze tanzen - ohne die übliche Stütze, die man am Anfang nimmt. Von meinem Vater, der ein sehr guter Tänzer war, habe ich alle Tänze gelernt, mo­derne wie Standardtänze. Aber zum Ballettunterricht wollte er mich nicht geben, wie ich bereits erwähnt habe.

 

Und auch in anderer Hinsicht waren mir Möglichkei­ten, mich erweitern zu können, versperrt: Tante Baby hatte einen Flügel; an dem habe ich bereits als kleines Kind geübt und geübt, bis ich eine Me­lodie herausbekam. Ich wollte doch so gern Klavier spielen lernen und das irgen